Augenweiden

Ein Interview mit Caroline Bittermann
von Oscar van den Boogaard,
geführt im Herbst 1993

Die modellartigen Gebilde von Caroline Bittermann entstehen in Anlehnung an verlorengegangene Maquetten von Gärten des 18. Jahrhunderts, an Dioramen und Raritätenkabinette. Ihr Werk gibt einem sich wandelnden Natur-und Kulturverständnis Ausdruck. Auch Oscar van den Boogaard ist fasziniert von Miniaturwelten: Sein erster Roman spielte in einem Puppenhaus, und in dem Buch, das letztes Jahr erschien, “Bruno’s optimisme”, führt uns der Schriftsteller in das Land von Märklin. Van den Boogaard sprach mit Caroline Bittermann über die Wunderwelt der Modelle, über die Lust am Schauen und das Genießen.

O.v.d.B.: Du nennst deine Arbeiten ” Modelle”. Heißt das, es gibt noch eine idealere Erscheinungsform als dieses “Modell”?

C.B.: Meine Arbeit ist wesentlich organischer. Es fehlen die strengen architektonischen Aussenstrukturen. Mir geht es ja in erster Linie um naturhafte Phänomene, wenn sich auch aus natürlichen “Bausteinen” Einflüsse auf architektonische Gebilde ableiten lassen. Ein weiterer Unterschied: Es entstehen Unikate. Bei aller strukturellen Ähnlichkeit bleiben die einzelnen Arbeiten einmalig. Mein Lehrer war Per Kirkeby. Entgegen allen Erwartungen wird unsere Geistesverwandschaft immer sichtbarer, obwohl der Abstand zwischen uns wächst. Kirkeby nahm Distanz zu seiner Arbeit als Wissenschaflter, sprich Geologe, mit den künstlerischen Mitteln der Klassischen Moderne. Ich hingegen schaffe ein “Modell”, bei dem Skulptur, Malerei, Natur und Architektur zu einer Einheit verschmelzen, und die “lllusion” ein vor-wissenschaftliches Stadium einkreist. Was ich von Kirkeby gelernt habe, ist die Gelassenheit bei der Wahl der Mittel. Verbunden fühle ich mich vielleicht auch in dem visionären Versuch, die Natur mit plastischen Mitteln zu durchdringen.

Ov.d.B.: Ungefähr vor vier Jahren hast du begannen, “Modelle” zu bauen.
Was war dabei der ausschlaggebende Faktor?

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Abb. FOLLIES, Installationen mit Gartenmodellen und Aquarellen, 1992-95

C.B.: Es war eher ein Komplex von Faktoren. Aber der wichtigste war doch die Begegnung mit der letzten Arbeit von Duchamp, dem “Etant Donnés: 1° La chute d’eau, 2° Le gaz d’éclairage”, 1987 in Philadelphia. Duchamp hat daran fast sein halbes Leben im Verborgenen gebaut. Pläne existierten dazu schon seit 1912/13, eine Zeichnung der Gaslampe schon seit 1904. Und erst 1969, also knapp ein Jahr nach seinem Tod, wurde diese Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für mich war es ein Schlüsselerlebnis im wahrsten Sinne des Wortes: Der Blick durch zwei Gucklöcher legt eine erotische und pittoreske Stimmung frei, die Duchamp mit Erfindungen des 19. Jahrhunderts erzeugt: dem Diorama und dem Gaslicht.Geht man mit dem Gesicht ganz nah an das verfallene Holztor heran, so verschwinden die Löcher, und eine Landschaft mit einem Wasserfall, der wirklich zu fließen scheint, ihre malerische und artifizielle Atmosphäre wird sichtbar. Der weiche Frauenleib scheint sich ganz dem Betrachter hinzugeben. Das voyeuristische Phänomen wird durch die Schönheit des Augenblicks ihres imaginären Orgasmus’, eines “kleinen Todes”, aufgehoben. Und genau dieses pittoreske Element hatte Duchamp vorher in seiner ganzen Arbeit als “retinal” verworfen. Hier wird er retinal bis zur Schmerzgrenze. Genau da lösen sich alle Netzhautfeindlichkeiten eben doch wieder auf. Hier findet die “Vermählung der Bildhauerei mit der Malerei in Gesellschaft der Poesie” statt, nach der Duchamp immer gesucht haben muß. Hier kehrt er zu seinem Ursprung im 19. Jahrhundert zurück und sein blinder Fleck wird sichtbar: der Hang zum Symbolismus. Das Diorama von Duchamp weckte mein Interesse für andere Dioramen aus naturhistorischen Museen zum Beispiel, von denen ich ebenfalls in Amerika einige besuchte. Damals wurden häufig Künstler engagiert, wenn es darum ging, sagen wir, paläontologische Funde zu einem lebensnahen Ereignis werden zu lassen. Aber auch Gartenmodelle faszinierten mich. Ich besuchte deshalb einige berühmte Gärten in Italien, Österreich und Deutschland. Später las ich, daß es zu vielen großen Gärten des 17. und 18. Jahrhunderts neben den Plänen auch Modelle gegeben hatte, die jetzt größtenteils verschollen sind. Ich fand es spannend, in diese Lücke zu springen.

O.v.d.B.: Du interpretierst Duchamp hier von einem extremen Punkt aus. Wie stehst du dann zur Konzeptkunst?

C.B.: Laß es mich vielleicht kurz historisch umreissen: 1912 begann Duchamp sich die Frage zu stellen: Wie komme ich dem ornamentalen Druck des 19. Jahrhunderts aus, wie der impressionistischen Huldigung an die Farbe oder diesem Abstraktionsmonster Picasso (der gerade sein Objekt “Die Gitarre” geschaffen hatte)? Wie also komme ich all diesen retinalen Erscheinungen aus, die nur die Sinne ansprechen und den Geist abstumpfen? Die Konsequenz, die Duchamp aus diesen Fragen zog, war das “ready-made”. “Die Schönheit der Indifferenz” war geboren, und Duchamp wurde zum Geburtshelfer der Konzeptkunst. Ein industriell reproduzierbarer Gegenstand konnte zur Kunst erklärt werden. Nur die Idee zählte. Zu seiner Zeit war dieser Schritt absolut revolutionär. Heute jedoch ist die “Zerschlagung des Auratischen” an der Tagesordnung. Heute ist die Kontextverschiebung fast eine Selbstverständlichkeit. Darum bin ich der Ansicht, daß es inzwischen wieder notwendig ist, das Retinale, also die sinnliche Erfahrung, Empfindungstiefe und Augenweiden aller Art zurückzuholen. Und das kann man machen, auch ohne den Verlust an gedanklicher Kraft. Mir geht es um einen elementaren und einfachen Begriff von Schönheit, die noch zu Erkenntnis führen kann. Schönheit bedeutet für mich jedoch nicht jenen Hang zur Überästhetisierung des Alltags, den wir derzeit so oft antreffen. Soziologen bedienen sich eines Gesellschafts-Designs. Körper bedürfen eines Body-Stylisten. Nicht zu vergessen, der Food-oder Drogen-Designer. Nicht einmal die Ökologen können sich diesem Ästhetisierungsdrang entziehen. Man sieht also, daß ein Entwicklungsstrang der achtziger Jahre, nämlich die Ansiedelung des Wesentlischen an der Oberfläche, immer noch genährt wird. Gleichzeitig stellt sich eine Sehnsucht nach etwas ein, das man “einfach oder “ursprünglich” nennen könnte, das in mir beginnt und die Beobachtung meiner eigenen Umgebung miteinschließt.

O.v.d.: Du sagtest eben, daß es ein Komplex von Faktoren war, der dich zu der Entscheidung brachte, Modelle zu bauen. Was beeinflußte diesen Entschluß noch?

C.B.: Bevor ich mit den Modellen anfing, habe ich auf Leinwand gemalt und dabei immer um Pastosität gekämpft, um Volumina zu erzeugen. So war die Modellidee die Möglichkeit, endlich in den Raum hineinzukommen. Zunächst experimentierte ich mit Modellbaumaterialien, ging auf Modellbaumessen, beschäftigte mich intensiv mit Faller und Märklin. Dann stellte ich fest, daß die Farbskala all dieser Streumaterialien zu begrenzt war. So entschied ich mich wieder für die Malerei. Ich fand bald heraus, daß der Malprozess auf dem modellierten Untergrund der gleiche bleiben konnte, wie auf der Leinwand. Ich malte weiterhin abstrakt, aber das Ergebnis war illusionistisch: Felslandschaften, Moore, Grotten. Die sogenannte Fassung, wie man die Bemalung von Skulptur früher nannte, leitet sich hier also direkt von der Malerei auf Leinwand ab und erfüllt nicht nur die Funktion, die Oberfläche zu gestalten, sondern steht gleichberechtigt neben dem Modelliervorgang.

O.v.d.B.: Was mich interessiert, ist die Tatsache, daß eine Modellwelt sowohl illusionistisch, als auch real ist. Miniaturwelten sind vor allem faszinierend wegen der Kombination aus der wirklichen und einer nachgebauten Welt, aus der dann eine dritte Realität entspringt, die die beiden anderen übersteigt. In dieser Art von Miniaturwelten fühle ich mich zuhause. In sie kann man seine abstrakten und unbewußten Vorstellungen hineinprojizieren.

C.B.: Das überschneidet sich auch mit meinem Bedürfnis, bestimmte unsichtbare und unbewußte Prozesse einsichtig zu machen. Wichtig ist für mich, daß das Arbeiten mit miniaturhaften Welten mir die Möglichkeit gibt, mich einer Maßstäblichkert zu bedienen, die ich mir selber setze. Mit Hilfe eines “over-all-picture’s” kann man einen Blick erzeugen, den man sonst nur aus dem Flugzeug hätte oder durch das Okular eines Mikroskops. Ich bestimme jedesmal selbst den Abstand zu den Dingen.

O.v.d.B.: Deine erste wirkliche Einzelausstellung mit Modellen hatte den Titel “Flow”. Warum?

 

C.B.: “Flow” handelt von meiner Arbeitsmethode. Wortwörtlich heißt es “Fluß”, aber der Begriff wird auch in der Neueren Psychologie verwendet, um positive Gefühle wie Freude, Euphorie und Glück zu benennen. Untersuchungen haben gezeigt, daß ein “FIow”-Zustand unabhängig von äusseren Faktoren entstehen kann, sowohl bei einer Bergtour, als auch im KZ. Ausserdem zeigt sich, daß Menschen auf der ganzen Welt vergleichbare Worte benutzen, um das Gefühl von Glück zu beschreiben. Man muß dazu über sogenannte “dissipative” Fähigkeiten verfügen, was, kurz gesagt, der Tatsache gleichkommt, aus der Not eine Tugend zu machen.

Was meine Arbeit anbelangt, so tritt dieser “FIow”-Zustand immer häufiger auf. Meine Methode besteht nicht mehr so sehr aus einem Kampf gegen Widerstände, aus Selbstüberwindung oder der Suche nach harten Brüchen, wie es die modernistische Arbensweise so gnadenlos fordert. Disziplin erhält dadurch eine völlig neue und eigene Qualität. Kopf und Bauch spielen sich weniger gegeneinander aus. Ich öffne mich ganz einfach für die Übergänge vom einen zum anderen.

O.v.d.B.: Eine andere Ausstellung hat ebenfalis einen merkwürdigen Titel: “Ästuarien”.

C.B.: Auch den Begriff “Ästuar” habe ich gewählt, weil er etwas über meine Methode aussagt. Ein “Ästuar” ist eine Flußmündung, die ein Übergangsgebiet zwischen Süß-und Salzwasser formt. In diesem Brackwasser können nur spezialisierte Organismen mit einem hohen Anpassungsvermögen überleben. Das Phänomen des Ubergangs fasziniert mich. In meiner Arbeit geht es auch ständig um verschiedene Arten von Ubergängen: von einer Skizze zum Modell, vom Gebauten zur Malerei, dann zum inszenierten Foto verschiedener Modell-Konstellationen, wieder zurück zur Zeichnung, zum Aquarell, zur Installation im Raum. Aber es gibt natürlich auch Bedeutungsübergänge, die eine Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung implizieren. An dieser Schnittstelle entsteht eben jene Schönheit, von der ich vorher sprach. Nicht der große Entwurf also zählt, sondern die Beschreibung verschiedener Wahrnehmungsebenen, die wiederum Distanzübergänge beinhalten.

Auch bin ich beispielsweise ausserordentlich an marginalen Erscheinungsformen der sogenannten “Hochkunst” interessiert: an Wachsfigurenkabinetten, Krippenkunst, Gallionsfiguren, Wunderkammern, aber auch an Comics und Fantasy. All diese Erscheinungen münden in meine Modelle in transformierter Gestalt. Vielleicht kann man einen Vergleich ziehen zu dem Maler Gainsborough, der Steine, Äste und Glasscherben in seinem Atelier als Ersatz für die freie Natur anordnete. Auch ich baue Naturmodelle, um sie künftig wunderkammerartig in Schränken zu zeigen. Während ein Mangel an analytischen Vorgaben dafür sorgte, daß in der prämodernen Wunderkammer die verschiedensten Bedeutungsebenen (Fossilien, Skulpturen, Reliquien, ausgestopfte Tiere und Bilder) zusammenflossen, erlaubt mir der heutige Überfluß an solchen Vorgaben, Dinge zusammenzubringen, die so noch nicht zusammengesehen worden sind. Sammeln und Zuordnen interessiert mich ähnlich wie Anna Oppermann oder Marc Dion.

O.v.d.B.: Und dann hast Du noch eine weitere Ausstellung in Vorbereitung, der du den Arbeitstitel “Follies” gegeben hast. Beschreibst du damit einen weiteren Ubergang?

C.B.: “Folly” ist ein Begriff aus der Gartenarchitektur. Er beschreibt eigentlich eine bestimmte Art von Freizeitarchitektur, was man aber sehr weit fassen kann. Die Benutzung und die Bestimmung der “Folly” ist einem ständigen Bedeutungswandel unterworfen. Im 18. Jahrhundert war die “Folly” noch eine “architectura recreationis”, ein Ort, an den sich der einzelne zurückziehen konnte, um zu sich selbst zu kommen. Damals war diese Möglichkeit der Selbstbesinnung nur dem Adel vorbehalten. In einer Massenkultur jedoch wäre das ein Ort, wo jeder ganz für sich allein Kräfte sammeln könnte, ohne vor der Realität zu fliehen, sondern um sie, im Gegenteil, besser zu bewältigen. Es können Einzeller-Architekturen sein, orientiert an den Eremitages von Lequeu oder an dem “Ei” von Colani. Plaziert wären sie am Rande von Öko-Systemen, deren Chance darin bestünde, nur aus der Ferne wahrgenommen zu werden.

Auf den zentralistisch angelegten Garten, der eine Metapher für die Macht des absolutistischen Königs darstellte, folgte der freie Ausblick des Landschaftsgartens das 18. Jahrhunderts. Will man diese Entwicklung fortsetzen, so könnte der Ausblick von damals durch eine reautonomisierte Natur ersetzt werden, in dem Sinn, daß der Betrachter nur aus großem Abstand darauf schauen dürfte. Gut funktionierende Okö-Systeme können nur ohne menschliches Eingreifen gedeihen, sodaß der Abstand eine schützende Funktion hätte. Um diesen distanzierten Blick zu ermöglichen, denke ich an “Follies” in der Form von naturhaft getarnten Hochständen. Durch Ferngläser könnte man sich von ihnen aus dann alles anschauen. Der Preis für die jahrhundertelange Reduzierung der Natur auf eine reine Kulturlandschaft oder sagen wir besser, der Preis für die Wiedergewinnung von soetwas wie einem “Urzustand” wäre ein vorübergehender Verlust an sinnlicher Erfahrung. Ab einem bestimmten Augenblick jedoch, sollte dieses Gefühl von Verlust einem Gefühl von Verantwortlichkeit Platz machen. Man könnte dann vielleicht den eigenen Körper aufs neue als Teil der Natur respektieren lernen, als einen Teil, der nicht mehr manipuliert werden könnte, auch nicht durch Gen-Technik oder die Lustmaschinen des Cybersex. Daraus ließe sich vielleicht sogar eine ‘Kultur der Berührung” entwickeln, was, um mit Kleist zu sprechen, hieße, “zum zweiten Male vom Baume der Erkenntnis zu essen”. Aber wie gesagt, nur ein Arbeitstitel…

O.v.d.B.: Wie würdest du abschließend all diese verschiedenen Methoden einander zuordnen?

C.B.: Ich arbeite – könnte man sagen – wie ein Biomimetiker. Allerdings nicht in diesem funktionalen Sinne, d.h. im Sinne einer Erforschung der Nutzbarmachung naturgegebener Materialbeschaffenheiten – wie die Tragfähigkeit eines Spinnennetzes oder die Biegsamkeit einer Holzfaser -, sondern als Bewunderer der Schönheit eben dieser Phänomene. Die Mimetik, der lllusionismus erscheinen mir wieder legitim – anläßlich eines Entwicklungssprungs, den die Menschheit auf Kosten der Natur vollzogen hat. Ihr Verschwinden macht es notwenig, sie wieder und wieder haptisch werden zu lassen.

Und ich denke, zur Zeit ist das Epikureische subversiver als das Kynische.



METROPOLIS M, Zeitschrift für zeitgenössische Kunst, Holland, 6/94