Jardins d’amis – Die Stadt des Hirns (Topiary Slam), 2017, Länge: ca. 5 Min.
Filmische Dokumentation der Joint Venture Performance im Cabaret der Künstler, Zunfthaus Voltaire
DIE STADT DES HIRNS – TOPIARY SLAM
Joint Venture-Performance von
CAROLINE BITTERMANN mit LENA SCHORNO
September 2016
Manifesta 11, Cabaret der Künstler – Zunfthaus Voltaire
Spiegelgasse 1, Zürich, Schweiz
https://www.m11.manifesta.org/en/cabaret-archive.html
Die Performance erinnert an die letzte Ausgabe der dadaistischen Zeitschrift „Der Zeltweg“ von November 1919. Autor war u.a. Otto Flake, neben Tristan Zara, Walter Serner und Jean + Sophie Täuber-Arp. Bei einem “Topiary-Slam” mit der Schweizer Holzschnitzerin Lena Schorno schneiden wir aus zwei mittelgroßen Buchsbaumpflanzen Portraits von Otto Flakes Roman Alter-Egos Lauda und Beust mit Kettensäge und Heckenschere. Als Schnitt-Vorlage dienen u.a. ein als Soundcollage eingespielter Auszug aus dem Roman „Die Stadt des Hirns“, dessen Erscheinen Otto Flake im „Zeltweg“ von 1919 ankündigt, als auch einige künstlerische Arbeiten daraus. Projezierte Zeichnungen aus meiner Serie “Die Stadt des Hirns” liefern als Licht-Installation die farbige Atmosphäre der Joint-Venture-Performance.
In der Performance zitierter Roman-Ausschnitt:
Von Otto Flake, Fischer Verlag, Berlin, 1919
… Wie ist Klarheit des Denkens möglich — was ist überhaupt Klarheit?
Erstes Studium Laudas war einst Medizin gewesen, drei Semester hatte er seziert, dreißig Hirne gewogen und immer von neuem scheu den entblößenden Schnitt getan, bald in die nach oben gestülpten Hemisphären, gelatinenhaften Sitz des bewußten Denkens, dem Variation erlaubt ist, bald in die Basis, schärfren, gegliederten, architektonischeren Teil, in den Wissenschaft die automatischen der Willkür entzognen Nervenfunktionen verlegte, Region des Unterbewußtseins, der Reflexe und bereits abgelagerten Instinkte.
Er hatte danach Medizin aufgegeben, sowohl weil Kenntnis des Mechanismus nichts über das Rätsel der Existenz zu verraten imstand war, als aus Abneigung gegen Experiment am Tier, dem Schädel geöffnet, Gehirn geschabt, mit Glas gefenstert, mit Hammer erschüttert wurde; für Wissenschaft war das tote Hirn nichts als träge Masse, sie sah sich ganz auf das lebende Objekt angewiesen. Neigung, die in ihm lag, einzelnes Geschöpf für gering zu achten, hatte gedroht, in so fanatische Härte verwandelt zu werden, daß er sich vor dem, woran ihm lag, Mitschwingen im All, verschlossen hätte, obwohl sein Lehrer seltner Mann gewesen war, der nicht den Hochmut der Messerführenden besaß, letztes Rätsel gelöst zu glauben.
Ohne Zweifel war der Professor mehr als Intelligenz, Stück Genie gewesen, dem Kollegen nur angesichts unleugbarer Großtat in Chirurgie verziehn, daß er auf ihr physiologisches Arbeitsgebiet übergriff und Theorie der Seelenfunktionen entwickelte. Auch künstlerische Neigungen hatten ihn verdächtig gemacht, bedeutender Musiker baute er auf Rhythmik die Beziehung von Herz und Hirn auf, war, für Laudas Geschmack zu sentimental, empfänglich für Harmonie der Kunst, feindselig der Disharmonie, banaler Dualismus.
Nun war es seltsam, daß an dem Tag, an dem Lauda sich Beusts erinnerte, Nachricht von ihrem gemeinsamen Verleger kam, daß der Professor in Antwerpen weilte, militärärztlicher Leiter eines chirurgischen Lazaretts. Lauda suchte ihn auf, mußte lächeln, als er den kleinen Mann mit der Stumpfnase des Sokrates beleibt in Uniform sah, die nicht zu Gesicht stand, wurde freunlich begrüßt, zu Tisch geladen. Aber mehr Zeit hatte der Professor nicht übrig, und Lauda sah ein, daß Hoffnung auf Diskussion in ihn bewegenden Fragen unerfüllbar war. Doch am nächsten Tag erhielt er ein Paket enthaltend zwei Bücher, die Beust im Krieg veröffentlicht hatte, für den Gebildeten geschriebne Aufsätze über seine Forschung zur Seele.
Er las sich rasch hinein, führte sie zwei Wochen lang, in der schönen Ruhe ohne Bekanntschaft und Ablenkung, in der endhch erlangten reinen Atmosphäre denkenden Daseins, mit sich von Wohnung zu Bureau, durch lärmende Stadt und stillen Abend, und besaß ein Bild, wie Wissenschaft die Stadt des Hirns aufbaut: nicht viel mehr als Versuch, aber annähernde Hypothese.
Narkose, täglicher Eingriff in die Seelentätigkeit, hatte den Chirurg zum Psycholog gemacht. Chloroform, ähnlich wie Alkohol, beschleunigte zuerst durch Reizung die Anschlußfähigkeit der Ganglien, d. h. Hemmung wurde vermindert. Überspringen des Lebensfunkens von Zelle zu Zelle erleichtert, bis Umschlag eintrat: Erweitrung der Gefäßröhrchen, Isolierung der Ganglien, Lähmung, Schwinden des Bewußtseins im blutgefüllten Hirn infolge durchgeführter Isolierung.
Was ist Hemmung? Regulierung des Zentralapparates, Vermeidung des Chaos gleichzeitiger Meldungen, Ordnung, Abstellung aller Leitungsbahnen zugunsten der einen freigegebnen. Lehre von der Hemmung war Grundproblem der Hirnforschung. Nur ein Gedanke ist immer frei, die Millionen andrer gehemmt; Konzentration ist Ausschaltung aller Systeme bis auf eine Gruppe.
Verbreitetste Erklärung der Hemmung war die von Strom und Gegenstrom. Strom war klar zu definieren: eintretende Reizung äußrer oder innrer Herkunft in dem pulsierenden Milliardensystem von Zellen, die durch ein unendliches Netz von Ganglienfädchen miteinander verbunden waren. Wie aber war Gegenstrom zu verstehn, der abstellende Regulator? Einige nahmen an, der eintretende Strom errege nicht nur eine Nervenbahn, sondern lähme auch die übrigen; andre vermuteten eigne Funktion nervöser Natur, die die Rolle des Telephonfräuleins übernimmt.
Beweise für beide Behauptungen, Widersprüche, Lücken bei beiden. Beust nannte die Hypothese solchen Oberregulators Einschmugglung der Metaphysik in die mechanistische Analyse, Seele über Seele, stellte neue Theorie auf, wies die Isolierung der Blutflüssigkeit zu, die durch die Neurogliazotten die letzten Verästlungen der Zellen umspült. Dieses unerhört komplizierte Bindegewebe, worin die Ganglienzellen aufgehängt sind, dieses System von Gefäßchen, Kanälchen, Umhüllung, war ihm mehr als Stütz- und Nährgewebe, ihm spielte es zugleich die Rolle des Seidengespinstes um Kupferdrähte. Verengte es sich, sprang der Funke von Zelle zu Zelle — Denken, das knisternde Assoziation ist, konnte sich vollziehn; erweiterte es sich, gefüllt mit Blutsaft, wurde der Kontakt unterbrochen.
Er konnte so gute Theorie des Schlafs geben: Füllung des Gehirns mit Blut erzeugt Ausschaltung, Gesicht des Schlafenden ist gerötet, das des Erwachenden wird blaß, Beobachtung die Lauda oft an sich selbst gemacht. Hypnose war ebenso zunehmende Konzentration, Abdämmung, Isolierung. Ursprünglich wurde die Schlafen genannte Tätigkeit der Neuroglia ausgelöst durch Sonnenuntergang, Reiz, den nicht zentrale Nerven vermittelten, sondern das älteste Nervensystem, älter als Rückenmark und Hirn, Urnerv Sympathicus. Seine Verästlungen umrankten die Gefäße vom Herzen bis zu denen der Neuroglia, er war eigentlicher Herr des Lebens; er auch rechtfertigte die Volksmeinung vom Anteil des Herzens am Seelenleben.
Schlaf war also eine aktive Funktion; physiologisch bestand er in Aufhebung des Bewußtseins für Ort und Zeit, der Orientierung, nicht in Verlust des Persönlichkeitsbewußtseins; er war periodische Ausschaltung der Orientierung für die Umgebung, Einziehung der Empfindungsfasern, mit denen Mensch in seiner Umgebung wurzelt. Alle andren Funktionen des Ich sind wach, nur vermindert insofern der Anstoß aus dem Situationsbewußtsein fehlt — Erklärung des Träumens; die kleinen elektrischen Funken springen auch jetzt noch über.
Die Neurogliazotten gab es nur in den nach oben gewölbten Hemisphären, nicht in den Knollen der Basis. Hier unten saßen vor allem die automatischen, der Willkür und dem Bewußtsein entzognen Funktionen, die Reflexe, die Mechanismen des Stoffwechsels, der Fortpflanzung, die Reize aus definitiven Leitungsbahnen wie Lidschluß bei grellem Licht, Atemholen bei kaltem Wasserguß, jene Auslösungen, die angeboren sind, weil sie sich im Lauf der Jahrtausende als die zweckmäßigsten ergeben haben und weil Willkür in den eigentlich vitalen Funktionen Existenz gefährden würde. In diese Schicht sanken alle Instinkte der Lebensbehauptung, die ursprünglich einmal dem freien Willen unterstanden hatten, die egoistischen Triebe im engen Sinn; langsam schien sich eine Ordnung aufzubauen wie aus Steinsschichten gewachsner Fels; Beust versetzte hierher auch die Instinkte aus Milieugewöhnung, alle konservativen Regulative, das Philiströse gewissermaßen, das nichts als eine ausgeprobte Zweckmäßigkeit ist. Umgekehrt kam alles Neue aus der obern Schicht, Sphäre des Bewußtseins und des freien Willens. Hier war Laboratorium der Experimente, des Prüfens, der Opposition, der Umwandlung, Auflösung, Neuformung, des Fortschritts.
Theorie der Hemmung führte zu sehr schöner Hypothese über den Ursprung der Differenzierungen der Urkraft. Aus dem Anprall der an sich unveränderlichen, besser monistischen Kraft, die nur eine Eigenschaft, die Reizbarkeit, besaß, gegen die Materie entstanden die Manifestationen des Dings an sich. Art der Widerstände bestimmte die Art der Äußrung, also Eigenschaften. Urkraft wurde fühlbar an Widerstand der menschlichen Nervenmaterie, wie Elektrizität durch Einschaltung geeigneter Widerstände, Licht durch brechenden Äther. Nicht zu übersehn dabei, daß auch die erste Materie Produkt der Urkraft war — durch Stoß, Druck? Ewig unergründüches Geheimnis, an dessen Anfang stand: der Inzest.
Einspruchslos angenommen war die Theorie, Hirn und Rückenmark seien Fortbildungen des Sonnengeflechts, schöner Name für das System des Sympathicus, Goethe erkannte im Schädel eine Rippe, die sich schützend bergend wölbt über dem Organ Hirn. Letzter Abschluß des Aufbaus war die Schaffung eines Apparats, in dem die Kraft, der Wille, die Vitalität vorschritt zu: Selbstbewußtsein, Identifikation des Willens.
Aber Seele saß darum nicht lokalisiert im Hirn; Anteil des Herzens, des Bluts, der Haut, dieses Sitzes der meldenden Fasern des Sympathicus wurde betont, Zusammenarbeit nachgewiesen. Seele war jede Zelle und Zelle war ein Sonnensystem für sich, Mikrokosmos, denn in der Schöpfung ist Leistung nicht abhängig von Größe.
Ein Schritt weiter und man stand bei Fechner, dem einst verlachten, der Sonne, Erde, Stein, dem Unorganischen die Kriterien der Seele zugeschrieben hatte. Das Hirn bestand aus einigen Milliarden Sternchen in einem Maschennetz so zart, daß Spinnweben dagegen Schiffstaue genannt werden konnten; wie feinste Träubchen waren sie darin aufgehängt und sandten aufleuchtend ihre Feuerstrählchen einander zu; elektrische Wellen, Lichtströme gingen hin und her. „Stadt des Hirns nächtlich phosphoreszierend, Landschaft die Weltall ist, Jenseits im Hirn, so unendlich, so fern, so unumschreibbar wie der Himmelsraum der Astronomen,” dachte Lauda, Mikrokosmos, der nun die Reizungen aus dem Makrokosmos empfängt, rotierend, rasend in Drehung wie er; das ist die Erkenntnis, die Denkender in den Mittelpunkt stellen muß, hier greife zu, von hier aus beginne Weltbild zu gestalten.”
Ob nun Beusts Theorie vor der Wissenschaft bestand, ob sie die vielen Fragen, die sie offen ließ, decken konnte, war ihm gleichgültig. Es genügte in eine wissenschaftliche These hineingesehn, Vorstellung von der Schwierigkeit und Erhabenheit des Objekts erhalten zu haben, um das sich Wissenschaft bemühte. Erhabenheit: jedem menschlichen Hochmut entrückt nicht nur durch den Aufbau des Kleinen, das mit dem Großen und der Größe zusammenfiel, sondern auch durch die nie zu lösende Frage nach dem Ursprung von Kraft und Materie.
Schwierigkeit: so tief Wissenschaft in Einzelheiten leuchten mochte, so intelligent sie dem Ablauf der Räder nachdachte, versagt blieb ihr die Anschauung des ganzen Getriebes; unmölich war ihr, nur für eine einzige Minute, nur für einen einzigen Gedankenvorgang die Gleichzeitigkeit der Vorgänge zu erfassen: dann wäre sie nicht mehr rekonstruierend gewesen, sondern konstruierend, identisch mit der Schöpfung.
Daraus ergab sich: wer Anschauung sucht, erlangt sie nicht mit jenem Spielzeug für Erwachsne, das von den Experimentalpsychologen gebaut wird, aber auch nicht durch die Kausalitätsverknüpfungen des Gefühls allein, sonst wäre der kirchliche Mensch der anschauende, sondern mit einem aus Wissen gewonnenen Gefühl, mit einem durch Gefühl ins Grundsätzliche erhobnen Wissen. Worte, vielleicht nur Worte.
Besser war die Definition von Anschauung als der Einschaltung des einzelnen Bewußtseins in die Summe aller Erscheinungen: so wurde Theologie vermieden, die nur Symbolik war. Es lag zwar so nah, vor dem Wunderbaren und Gigantischen des Weltaufbaus nach einem Werkmeister zu suchen, der alles Existierende nach einem zweckhaften Plan anlegte. Aber diese Anschauungsweise führte unvermeidlich zu einem Optimismus, der sich nicht mit Demut begnügte, sondern sklavenhaft anbot, die höhre Absicht einführte und eine Ethik extrahierte, die das was ist, gut nannte.
Nein, was ist, ist weder gut noch schlecht, es ist. Wer mit dem absoluten Gott die absolute Ethik einbaute, suchte das Phänomen der Existenz seinem Verständnis anzupassen, die Existenz stand über dem Verständnis, Existenz ist. Wer Gott erklärte, mußte erklären können, was hinter dem Raum ist, das war unmöglich. War Gott das Gute, dann bedurfte das Gute, um wahrnehmbar zu werden, einer Hemmung, wie das Licht, um sichtbar zu werden, des Äthers bedarf.
War diese Hemmung das Schlechte, dann gab es zwei Prinzipien, das Gute und das Schlechte — unerklärbare Tatsachen, ungeeignet zum Erklären. War diese Hemmung aber Materie, z. B. menschliches Hirn, wie Äther Materie ist, so daß das Gute nur an einer seiner materiellen Manifestationen erkennbar wurde, dann war das Gute ein monistischer Begriff, der sein Gegenteil ausschloß: das Gute war dann nur gut, nicht mehr im menschlichen Sinn einer Eigenschaft, nur noch im absoluten, d. h. die moralische Auslegung des Guten war ein Unsinn, gut deckte sich einfach mit Urkraft, Wille oder Gott: die Untersuchung endete in einer Willkür von Worten, statt gut hätte man ebenso richtig und inhaltslos das Böse sagen können. Streit um Gott war müßig. Nicht Gott für Urkraft zu sagen, hatte nur einen Grund: Gott war ein theologisches Wort, Rüstzeug der dualistischen Betrachtung, die in das erhaben Abrollende Ethik einschmuggelte.
Wenn der philosophierende Betrachter als letzten Trumpf ausspielte: angesichts der wunderbaren Differenziertheit des Schöpfungswerks, in dem Stufe auf Stufe steht, ist es erlaubt zu denken, daß Gott eine Harmonie beabsichtigt, die von Reinigung zu Reinigung fortschreitet — so war darauf zu antworten: diese Harmonie ist unleugbar, aber sie ist unethisch aufzufassen; hat sich, um mit Schopenhauer zu reden, der Wille entschlossen, in die Erscheinung zu treten, dann wird er Vitalität, die nicht anders kann als sich so zu organisieren, daß Leben möglich bleibt, Fortschritt ist in ihr nur insofern als sie, mittels ihrer eignen Energie, dazu gedrängt wird, sich ihrer selbst bewußt zu werden; Bewußtsein der Menschen ist der Weg zur Identifikation. Materie trägt im Keim Gefühl von sich selbst, wie Körper seine Wärme fühlt. Zunahme des Bewußtseins ist der einzige Fortschritt, den Philosophie anerkennen kann.
Was aber ist nun Ethik, wenn sie nicht metaphysisch absolute Idee ist? Ethik gehört in die gestaltete Welt, ist Norm, Regulativ, Hilfsmittel zum Aufbau der menschlichen Gemeinschaft, veränderhch, historisch, eine Zweckmäßigkeitsfrage. Nachdenken über die beste Art, sich einzurichten, führt von der ersten Tatsache, daß das egoistische Individuum ist, bald zu der zweiten, daß mehrere Individuen sind, daß also ein Ausgleich der Egoismen nötig wird. Ethik ist ein Gebiet, das gänzlich dem Willen des Menschen unterliegt, eigenste Schöpfung des Menschen, deren Anerkennung freisteht…
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